Sudans Wächter der Revolution
Im Sudan ist nach dem Sturz von Diktator Baschir nun eine Übergangsregierung im Amt. Die Anführer des Aufstands verzichteten auf Posten. Sie sehen sich als Kontrolleure der neuen Macht. Ein Besuch bei Menschen, die ihr Land zum Symbol für einen ganzen Kontinent machen wollen
Von Christian Putsch (erschienen in WELT)
Khartum – Monatelang hatten sie sich heimlich in wechselnden Häusern getroffen, einmal sogar in einem Kleinbus, um die friedlichen Proteste gegen den Diktator zu organisieren. Keiner der Namen sollte bekannt werden, um Verhaftungen, aber auch einen Personenkult zu verhindern. Nun, da nach der Herrschaft von Omar al-Bashir auch das Militärregime im Sudan beendet ist, haben die Anführer der Revolution endlich ihr eigenes Quartier: ein dreistöckiges Haus in der Hauptstadt Khartum mit großem Garten, für ein Jahr kostenlos von einem örtlichen Geschäftsmann zur Verfügung gestellt.
Von hier aus lenken die Mitglieder der „Sudanese Professionals Association“ (SPA) nun die Bemühungen, das Land nach drei Jahrzehnten der Diktatur in eine Demokratie zu verwandeln. In ihr haben sich Ärzte, Anwälte, Ingenieure und Journalisten zusammengeschlossen – Mitglieder von Gewerkschaften, die von al-Bashir systematisch unterdrückt worden waren. Und die am Ende maßgeblich zum Sturz seines Systems beitrugen. Sie sehen ihre Rolle künftig trotzdem nicht an der Macht, sondern als Wächter der Freiheit.
Es ist ein reger Betrieb. Minister gehen ein und aus, von al-Bashir entlassene Regierungskritiker bitten um Hilfe bei der Wiedereinstellung, in Arbeitsgruppen diskutieren SPA-Leute mit anderen Vertretern der Zivilgesellschaft. Und nebenbei kommt der Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“, Kumi Naidoo, vorbei – er halte die für einen „guten Kandidaten für den Friedensnobelpreis“, sagt er.
Vor dem Eingangstor haben sich 30 Schüler für eine Demonstration versammelt. Die meisten können sich die Fahrt zu den Schulen nicht leisten, auch das Essen dort sei zu teuer, klagen sie. Amjad Fareed tritt heraus, eines der bekanntesten SPA-Gesichter. „Dies ist auch euer Zuhause“, sagt er, als ihm ein Memorandum übergeben wird, „eines Tages sollt ihr unsere Aufgaben übernehmen.“
Im Garten steht derweil der SPA-Sprecher Rashid Saeed Yagoub. „Die Leute haben noch nicht verstanden, dass wir nicht die Regierung sind“, sagt er, „wir müssen jetzt dafür sorgen, dass sie ihre Erwartungen an die neuen Minister richten.“ Die Aufgabe der SPA sei es, die für gut drei Jahre gebildete Übergangsregierung kritisch und beratend zu begleiten. Und aufzupassen, dass das Militär nicht wieder die Macht an sich reißt. Die Armee stellt im vorerst höchsten Staatsorgan, dem Souveränen Rat, knapp die Hälfte der Mitglieder.
Für die so instabile Region ist der Erfolg dieser Aufgabe von großer Bedeutung. Es gibt dort ein Sprichwort: Was im Sudan passiert, das bleibt nicht im Sudan. Im Tschad und im Südsudan haben sich in den letzten Monaten die „Tschad Professionals Association“ und die „Südsudanesische Professionals Association“ gebildet, die ähnliche Proteste organisieren wollen. In Ägypten trenden auf Twitter seit Tagen Hashtags gegen das Regime von Präsident Abdel-Fattah al-Sisi. Selbst Saudi-Arabien hatte vehement versucht, mit Milliardenzahlungen das Militär im Sudan an der Macht zu halten. Zum einen, um dessen Hilfe beim Krieg im Jemen weiter zu sichern. Aber auch, weil das Land Veränderungen des Status quo in der arabischen Welt wegen Signalwirkungen für die eigene Bevölkerung fürchtet.
Der Einfluss der SPA auf den Wiederaufbau ist erheblich. Als wichtigster Akteur des Bündnis „Forces of Freedom and Change“ (FFC), in der Widerstandsgruppen organisiert sind, stellte die SPA dem neuen Premierminister Abdalla Hamdok je drei Fachleute pro Regierungsposten zur Auswahl, aber nicht aus den eigenen Reihen. Dem Parlament als Kontrollinstanz werden einige angehören, der aus Technokraten bestehenden Exekutive aber nicht. So haben es die 18 Führungsmitglieder der SPA mehrheitlich beschlossen.
Mohammed Naji al-Assam hat gegen diesen Kurs gestimmt. Es ist Sonntagabend um 22 Uhr, vor zwei Uhr morgens endet der Tag für den jungen Arzt derzeit selten – er gilt besonders bei jungen Sudanesen als Held der Revolution. „Wir haben die Revolution angeführt“, sagt der eloquente 28-Jährige, „ich war der Meinung, dass wir auch mit einigen Mitgliedern in der Regierung vertreten sein sollten.“ Aber er akzeptiere „selbstverständlich“ den Mehrheitsentscheid.
Deshalb hat al-Assam eine Reise nach Washington im letzten Moment abgesagt. Er sollte dort eigentlich Kongress-Abgeordnete treffen. Die USA führen den Sudan trotz Aufhebung der meisten anderen Sanktionen weiterhin auf ihrer Liste der Staaten, die Terrorismus unterstützen – die für Investitionen elementaren Finanztransaktionen und Unterstützung durch Weltbank und Internationaler Währungsfonds bleiben so stark eingeschränkt. „Ich wollte nicht als Stimme der Regierung wahrgenommen werden“, sagt al-Assam.
Das alte Regime hatte ihn Anfang des Jahres für drei Monate eingesperrt. Als er nach dem Sturz von al-Bashir im April freigelassen wurde, sagten Verwandte, nun habe er doch genug riskiert. Aber al-Assam machte weiter, bis sich im August auch das Militär von der alleinigen Macht löste. Und er will nicht nachlassen, mindestens bis zur Einführung der Demokratie. Für die Übergangsphase wurde bewusst mehr Zeit als in Ägypten nach der Revolution 2011 angesetzt. „Wir Sudanesen sind nicht für unsere Geduld bekannt“, sagt er, „die Menschen wollen schnelle Veränderungen, aber die Herausforderungen sind enorm groß.“
Das erlebt er bei einer Debatte, die von einer örtlichen Zeitung organisiert wird. Über 500 sind gekommen – die Menschen nutzen den neuen Raum zur politischen Debatte. Al-Assam argumentiert gerade für die Notwendigkeit einer Zivilregierung mit klaren bürgerlichen Gesetzen in dem konservativen islamischen Land, als ein älterer Mann aufspringt und zu schimpfen beginnt. Al-Assam sei viel zu jung. Und überhaupt, der Islam müsse Grundlage der Verfassung sein.
Al-Assam bleibt ruhig, betont die Notwendigkeit von Diskussionen. Viele „Gesetze zur öffentlichen Ordnung“, wie zum Beispiel das Auspeitschen von Frauen für das Tragen enger Hosen, sind seit der Revolution außer Kraft. Aber das Land sucht noch nach einer Antwort auf die Frage, wie weit es sich öffnen soll.
Auch der Lehrer Ahmed al-Rabia, 42, war von al-Bashirs Leuten verhaftet worden. 99 Tage verbrachte er in Haft, ohne seine Rolle als SPA-Anführer zu offenbaren. Sie hätten ihn sonst gefoltert, bis er die anderen Namen preisgibt, glaubt al-Rabia: „Nicht einmal meine Frau wusste davon.“ Das Bildschirmfoto seines Computers zeigt den Ort, an dem regimenahe Milizen am 3. Juni über 100 Demonstranten erschossen.
Anders als al-Assam begrüßt er die Entscheidung ausdrücklich, zumindest während der Übergangsphase nicht in der Regierung vertreten zu sein. „Ich habe da keine Ambitionen“, sagt er, „wir werden als Aufsichtsorgan Frieden und Fortschritt sicherstellen.“ Er tritt, wie alle in diesem Gebäude bescheiden auf. Es ist eine Revolution des Volks, so der Tenor, nicht von uns.
Die SPA nutzte während der Revolution die sozialen Netzwerke meisterhaft. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass es, wenn nötig, auch zu Protesten gegen die neuen Mächtigen aufrufen wird. So geschehen vor einigen Tagen, als wieder Hunderte auf die Straßen gingen. Sie forderten die überfällige Ernennung eines unabhängigen Justizchefs.
Denn nicht nur die Gerichte sind noch durchsetzt mit al-Bashirs Leuten, auch die Staatsunternehmen sind es. Das Militär, in das sich der mächtige Milizenführer Hemeti mit seiner schwerbewaffneten Armee nur halbherzig integriert hat, hat sich zwar von dem verhafteten Diktator abgewendet, aber der Sicherheitsapparat des Sudans kassiert rund 70 Prozent des knappen Staatsbudgets und wird sich kaum mit weniger begnügen. Wirtschaftlich hat sich das Land nie von der Abspaltung des Südsudans im Jahr 2011 erholt, mit der das Öl und 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wegbrachen.
Derartige Probleme lassen sich in diesen Tagen auch westliche Politiker schildern, darunter war Anfang September Deutschlands Außenminister Heiko Maas. Als er nach einem Gespräch mit Premierminister Hamdok zur Pressekonferenz trat, gab es 20 Minuten lang Tonprobleme. Viele Sudanesen gingen von Manipulationen des alten Regimes aus. Der Chef des Protokolls wurde deshalb prompt auf einen gewöhnlichen Posten im Nationalarchiv versetzt.
Maas traf auch auf den SPA-Mann Amjad Fareed – und musste sich kritische Töne anhören. So habe die Europäische Union (EU) mit finanzkräftigen Kooperationen beim Grenzschutz die Lebensdauer des Al-Bashir-Regimes verlängert, sagt er, „das war ein Pakt mit dem Teufel“. Im Juli hatte die EU die Projekte vorerst ausgesetzt.
Künftig werde der Sudan auch im Bereich Migration und Flucht Menschenrechte stärken, sagt Fareed. Genau so habe er sich auch Maas gegenüber ausgedrückt. Wie der Politiker reagiert habe? „Er ist ein guter Zuhörer.“