Christian Putsch

Sudan: Der unsichtbare Krieg

Christian Putsch
Sudan: Der unsichtbare Krieg

Im Schatten von Ukraine, Gaza und Syrien ist der Krieg im Sudan zur größten humanitären Katastrophe und Vertreibungskrise der Welt entwickelt. Er geht den Westen mehr an, als er sich eingestehen will, wie eine Recherche an der Front offenbart. Dort kämpft nicht nur die Armee gegen die RSF-Miliz. Sondern auch Verzweiflung gegen Widerstandskraft

Der junge Mann, der in einem früheren Leben Fußballprofi war, sitzt auf einem wackeligen Plastikstuhl am Straßenrand, das Gewehr lässig gegen das rechte Bein gelehnt. Es ist dasselbe Bein, mit dem der Stürmer einst jubelnd Tore schoss, jetzt durchzogen von einem Granatsplitter, der gerade so verheilt ist, dass er wieder kämpfen kann. Über den Dächern der Großstadt Omdurman hängen Rauchschwaden, während Explosionen von Artillerie und Luftangriffen die Gebäude erschüttern. Die Front ist nah, die Pause von ihr endet gleich mit den letzten Tropfen Tee in seinem Glas.

Adam Daffala Dama, 29 Jahre alt, hochgewachsen und mit einem dünnen Bart, hat der Krieg früh Falten ins junge Gesicht gepresst. Er gehört zu den ‚Ghadiboon‘, was auf Arabisch ‚die Wütenden‘ bedeutet – einer Gruppe von etwa 200 ehemaligen Demokratie-Aktivisten. Sie haben sich im sudanesischen Bürgerkrieg der Armee des Landes angeschlossen und unterstützen sie in ihrem zermürbenden Kampf gegen die paramilitärische Miliz „Rapid Support Forces“ (RSF).

Es gibt viele solcher Freiwilligen-Gruppen. Hier sieht man sie immer wieder: Dutzende Männer, die durch staubige Straßen joggen. Sie werden im Eilverfahren für diesen seit 21 Monaten wütenden Konflikt im Nordosten Afrikas fit gemacht, der sich angesichts der Aufmerksamkeit auf die Ukraine und Gaza schon fast unbemerkt zur größten humanitären Katastrophe der Welt ausgeweitet hat.

 

Der Sudan als Inbegriff des Krisenlandes, wieder einmal. Das hat viele Gründe, zu ihnen gehören auch die anhaltenden Folgen der kolonialen Grenzziehungen Ende des 19. Jahrhunderts, die im Sudan besonders dreist ethnische und kulturelle Realität ignorierten. Seit der Unabhängigkeit hat auf dem afrikanischen Kontinent wohl nur der Kongo so viele Bürgerkriege und Konflikte erlebt wie der Sudan.

Kein anderer Konflikt in der Region hat eine vergleichbare Brutalität entwickelt. Und keiner hatte für den Westen eine derartige, völlig unterschätzte Relevanz. Russland mischt als Waffenlieferant der Armee mit, im Gegenzug wurde ein Areal 20 Kilometer nördlich der Hafenstadt Port Sudan für den Bau einer Militärbasis reserviert, Codename „Flamingo“. Auch Iran, das den Generälen fleißig Drohnen aushändigt, macht sich ähnliche Hoffnung.

Doch Sudans Generäle werden Moskau und Teheran wohl noch Jahre hinhalten, wohlwissend, dass solche Marinestützpunkte am Roten Meer, einer der wichtigsten Handelsrouten, für die USA ein „Rotes Tuch“ wäre. Doch je länger der Krieg andauert, desto größer wird die Abhängigkeit der Armee von Waffen aus diesen Ländern. Und damit deren Verhandlungsposition.

Und da ist die irreguläre Migration. Der Sudan ist traditionell weit mehr Transit- als Herkunftsland, besonders für Eritreer und Äthiopier. Doch natürlich gibt es in Europa die Sorge, das sich das ändert. 14 Millionen wurden vertrieben, drei Millionen davon in Nachbarstaaten. Das Horn von Afrika droht durch die Vertreibungskrise und unkontrollierte Waffenlieferungen weiter zu destabilisieren.

Den meisten Sudanesen, die in Länder wie den Tschad oder Südsudan geflüchtet sind, fehlen die Mittel für die Weiterreise nach Europa. Aber in Nigers Wüstenstadt Agadez, dem „Drehkreuz der Migration“ auf dem Weg nach Libyen, sind zuletzt vermehrt Flüchtlinge aus dem Sudan angekommen. Wenn auch bislang in kleiner Zahl. Ihre Aussicht auf Asyl in EU-Staaten wäre, gelinde formuliert, legitimer als das vieler anderer Durchreisenden.

 

Wer diesen komplexen Krieg verstehen will, der sollte sich die Geschichte des Freiwilligenkämpfers Dama anhören. Sie beginnt vor sechs Jahren. Für sein Land hat Dama damals gegen jene sein Leben riskiert, an deren Seite er nun kämpft: die Armee. Aktivisten wie Dama erzwangen den Sturz von Omar al-Bashir, dem Diktator, der das Land jahrzehntelang ausgeblutet hatte. Dama protestierte auch danach gegen die anhaltende Militärherrschaft, Korruption und eine Justiz, die nie eine war. Er wähnte sein Land auf dem Weg zum Hoffnungsträger. In Afrika, in der arabischen Welt.

Bereits damals nannten sie sich „Ghadiboon“. Dama und seine Freunde, eine verschworene Gemeinschaft. Er entkam knapp, als im Juni 2019 Sicherheitskräfte die anhaltenden Proteste vor dem Hauptquartier der Armee gegen die neuen Militärherrscher niederschlugen. Osman und Mudathir, zwei seiner engsten Kameraden, fanden dort ihren Tod, zusammen mit mindestens 120 anderen. Dama, der als aufstrebender Fußballprofi monatlich immerhin umgerechnet 400 Franken verdiente, kehrte nicht um. Die Stadien ließ er hinter sich, Familienpläne auch, kämpfte auf den Straßen weiter für die Demokratie. Beide Unterarme tragen die Narben von Schussverletzungen, zugefügt von Sudans Sicherheitskräften, schon lange vor dem Krieg

Wie kann es sein, dass so einer nun an der Seite der Armee kämpft, die in der internationalen Wahrnehmung als Feindbild der Demonstranten galt? Dama nippt an seinem Tee, schweigt einen Moment. Er sagt, dass das Massaker vor dem Armee-Hauptquartier überwiegend von RSF-Kämpfern verübt worden sei. Die Miliz war von al-Bashir aus Angst vor einem Putsch der Armee als persönliche Schutzmacht aufgebaut worden. Armee und RSF stürzten den Diktator im April 2019 dann doch gemeinsam, wie auch bald darauf eine Übergangsregierung mit ziviler Beteiligung. Armee-Chef Abdel Fattah al-Burhan und RSF-Anführer Mohamed Hamdan „Hemedti” Dagalo teilten sich die Macht fortan. Als die Miliz schließlich ihre Eingliederung in die regulären Streitkräfte verweigerte, zerbrach am 15. April 2023 das fragile Gleichgewicht. Der Krieg begann.

Und damit eine Katastrophe, wie sie es in diesem Ausmaß selten gab. 25 Millionen Sudanesen, jeder zweite Bürger, sind auf Nothilfe angewiesen. In einigen Teilen des Landes, das wegen seines enormen Landwirtschaftspotenzial als zukünftige „Kornkammer der arabischen Welt“ galt, haben die Vereinten Nationen eine Hungersnot bestätigt.

Eine Hungersnot dieser Art wurde in den vergangenen 15 Jahren nur in Somalia (2011) und im Südsudan (2017) ausgerufen. Völkerrechtlich sind die Geberländer eigentlich in einem solchen Fall zu verstärkter Hilfe verpflichtet. Die humanitäre Antwort auf die Krise bleibt skandalös unterfinanziert. Lebensmittellieferungen kommen aber vor allem deshalb viel zu selten an, weil sie von beiden Kriegsparteien immer wieder blockiert werden.

 

Und so liegt es an Frauen wie Suhanda Abdel Wahab, 33, dass bislang nicht noch viel mehr gestorben sind. Einige Schätzungen gehen von bis zu 150.000 Bürger aus, durch die Kämpfe, aber auch Folgen wie Ernteausfälle und fehlende medizinische Versorgung. Binnen weniger Stunden nach Kriegsbeginn erreichten die Kämpfe Omdurman, wo Wahab nicht weit entfernt von Freiwilligenkämpfer Dama lebt. Die Metropole grenzt an die Hauptstadt Khartum, wie auch Bahri, Sudans Industriezentrum. Wer dieses urbane Dreieck hält, dem gehört das Land – so war es immer. Entsprechend sind die Kämpfe hier, wo Blauer Nil und Weißer Nil zusammenfließen, bis heute die heftigsten im Land.

Als neben Wahabs Haus die ersten Bomben fielen, acht Nachbarn und drei Verwandte starben, da war die Anwältin im dritten Monat schwanger. Sie hätte fliehen können, für einige Tausend Dollar ins vergleichsweise stabile Ägypten, wie verständlicherweise viele wohlhabende Sudanesen. Doch sie steht in Omdurman in ihrem leuchtend blauen Kleid neben metergroßen Töpfen und verteilt Bohnensuppe in einem Hinterhof. Wie immer vor den Freitagsgebeten.

In friedlicheren Zeiten hat ihr Mann dort Autos verkauft, jetzt stehen Hunderte an, in getrennten Schlangen für Männer und Frauen. „Ich habe keine Sekunde daran gedacht, meine Leute allein zu lassen“, sagt sie, „die Not meines Landes ist größer als mein persönliches Leid.“

Schon vor dem Krieg konnten sich angesichts von Hyperinflation und anhaltender Wirtschaftskrise mancher kaum noch Mahlzeiten leisten, schon damals organisierte Wahab ehrenamtlich Suppenküchen. Sie und ihre Helfer versorgten 3000 Menschen. inzwischen hängt das Überleben von 7000 Bürgern von ihnen ab. Geld von Hilfsorganisationen bekommt sie nicht, ihre Kosten werden ausschließlich durch örtliche Spenden gedeckt.

Wie oft sie an ihre Grenzen gestoßen ist, lässt sich kaum zählen. Wochenlang fehlte Wahabs Versorgungsstellen der Nachschub, Ihr Warenhaus im Nachbarviertel Old Omdurman wurde zu Beginn der Kämpfe geplündert. Die Armee hat den historischen Stadtteil zurückerobert, aber er ist so zerstört, dass er wie eine Geisterstadt wirkt. Wieder eingezogen ist bislang kaum jemand.

Allen ist klar, dass seinerzeit die Miliz für die Plünderung verantwortlich war. Aber sagen will Wahab das nicht – aus Angst, dass aus Rache ihre Suppenküche Ziel eines Granatenangriffs wird. Ungewöhnlich wäre das nicht. Selbst Krankenhäuser werden offensichtlich gezielt bombardiert, so dass eine wiederaufgebaute Klinik in Omdurman ihre Wiedereröffnung vor einigen Wochen nicht offiziell vermeldete.

An der Suppenküche von Wahab reißt der Strom der Bedürftigen auch nach einer Stunde nicht ab. Der Hunger ist regelrecht zu spüren, bei der Brotausgabe kommt es zu einem kurzen Gerangel zwischen Jugendlichen. Die meisten Anwohner aber stehen geduldig an, zusammen mit immer mehr Binnenflüchtlingen. Sie bewahren sich ihrer Würde, ihrer Gastfreundschaft, das wird bei den Gesprächen und Besuchen immer wieder deutlich, bei denen sie darauf bestehen, dass ihre Gäste doch bitte jetzt wirklich die letzten Löffel Zucker dem ihnen servierten Tee hinzufügen mögen.

Plötzlich fängt Wahab, diese tapfere Frau, an zu weinen. Sie versucht, sich an diese Bilder ihrer leidenden Landsleute zu gewöhnen. Irgendwie. „Es gelingt mir nicht.“ In solchen Momenten wünschte man sich, dass sudanesische Bürgerinitiativen wie ihre den Friedensnobelpreis gewonnen hätten, für den sie im vergangenen Jahr kollektiv als „Notfallräume“ nominiert waren. Selten wäre er verdienter gewesen.

Im Büro neben der Ausgabestelle krabbelt Tochter Leen, gerade ein Jahr alt geworden, über ausladende Ledersessel, die aus besseren Zeiten stammen. Irgendwann wird ihr die Mutter erklären, warum sie diesen Namen gewählt hat. Er heißt übersetzt: Blütezeit. „Eines Tages“, sagt Wahab, noch immer unter Tränen, „soll der Sudan wieder blühen. Das ist mein Traum für mein Land.“

 

Auch die Träume des “Ghadiboon”-Kämpfers Dama haben sich verschoben. Insbesondere die von der Demokratie sind in weite Ferne gerückt. Noch immer kann er nicht ganz schlüssig erklären, warum er so bedingungslos die Armee unterstützt. War sie es nicht, die den Sudan über Jahrzehnte kontrolliert hat, wirtschaftlich und politisch?

Der Sicherheitsapparat sei schon damals vielschichtiger gewesen, als es viele im Ausland wahrgenommen hätten, erwidert Dama. Seine Wut habe sich weniger gegen die Armee als gegen den Geheimdienst „General Intelligence Service“ (GIS) gerichtet, der für die Unterdrückung von Regime-Gegnern verantwortlich gewesen sei. „Neben uns saßen Soldaten, die uns in unserem Kampf für unsere Rechte unterstützt haben“, sagt Dama.

Nur wenige Meter entfernt sitzt ein hochrangiger Soldat, und es ist unklar, wie groß sein Einfluss auf diese hehren Worte ist, wenngleich er scheinbar gedankenverloren auf sein Handy starrt. Die Armee lässt seit einigen Monaten wieder vereinzelt Journalisten in ihre Gebiete im Nordosten und Zentrum des Landes. Doch sie macht die Begleitung und Genehmigung von Interviews zur Bedingung. Die durch Goldschmuggel finanzierte RSF-Miliz dagegen, die Medienberichten zufolge eine vor dem Krieg eine kanadische PR-Firma angeheuert hatte, ignorierte einen Antrag der WELT AM SONNTAG für eine Recherche in ihren Gebieten. El-Basha Tbaeq, eigenen Angaben zufolge offizieller RSF-Berater, ließ eine schriftliche Anfrage für eine Stellungnahme zu den in diesem Text geschilderten Vorwürfen unbeantwortet.

Wie jeder Krieg ist auch dieser einer der Propaganda. Ein Gespräch mit einer Familie, die sich teilweise dem Zivilisten-Programm der Armee angeschlossen hat, aber auch Verwandte auf RSF-Seite hat, verweigerte die Armee. Sie präsentierte dafür kriegsgefangene Söldner aus dem Tschad und Südsudan für Interviews. Die RSF, seit Jahrzehnten düsteres Geschichtskapitel des sudanesischen Regimes und nicht zuletzt wegen schwelender ethnischer Spannungen entstanden, soll als Fremdkörper dargestellt werden.

Die RSF ist in Omdurman jedoch auch jenseits jeglicher Propaganda klar als das große Feindbild der Bevölkerung zu erkennen. Geflüchtete aus RSF-Gegenden berichten von Morden und Vergewaltigungen, dazu dreisten Diebstählen. Wenige Tage vor der Begegnung mit Dama hat die RSF Artilleriegeschosse in ein Wohngebiet von Omdurman gefeuert. Ein Bus wird getroffen, mindestens 17 Zivilisten sterben. Darunter ein Junge, der auf dem Nachhauseweg von seiner Schule war, die gerade erst wieder den Unterricht aufgenommen hatte. 

Kurz zuvor waren bei Luftangriffen der Armee in der RSF-Region Darfur offenbar über 100 Zivilisten getötet worden. „Die Armee nimmt bei ihren Offensiven gegen RSF-Stellungen den Tod von Zivilisten in Kauf“, sagt ein örtlicher Journalist, „die RSF aber feuert auch, wenn keine militärischen Stellungen in der Nähe sind.“

Trotz der Anwesenheit des Soldaten wirkt es, als brodele in den jungen Freiwilligen einiges. „Aktuell kämpfen wir für unser Land“, sagt Dama, „wenn der Krieg zu Ende ist, werden wir sehen, welche Differenzen wir mit Geheimdienst und Armee haben.“ Er habe „Vertrauen“ in die Armee, dass sie dann die Macht innerhalb von „zwei bis drei“ Jahren an Zivilisten übergeben werde, auch wenn ihm gerade niemand einfällt, den er an der Staatsspitze sehen möchte.

Aber die Ghadiboon wollen ein geeintes Sudan. Dabei zerfällt das Land in zahlreiche auch ethnisch geprägte Machtzentren, die über die Kommandostruktur von RSF und Armee hinausgehen. Zumindest Darfur im Westen des Landes – eine Region mit größerer Fläche als Deutschland – wird noch lange überwiegend in RSF-Hand bleiben. „Wenn wir hier fertig sind, machen wir in Darfur weiter“, sagt ein Kamerad von Dama dennoch, der rauchend neben ihm steht.

Dort sind die unfassbaren RSF-Kriegsverbrechen hinlänglich dokumentiert. Doch erst Anfang Januar verschärfte sich der Ton der USA gegenüber der RSF merklich. Außenminister Antony Blinken sagte, die RSF habe Völkermord begangen. Sie sei im Verbund mit anderen bewaffneten arabischen Gruppen gezielt gegen schwarzafrikanische Ethnien wie die Masalit vorgegangen.

„Die RSF und verbündete Milizen haben systematisch Männer und Jungen, sogar Säuglinge, auf ethnischer Basis ermordet”, sagte der Politiker. Frauen und Mädchen aus diesen Volksgruppen wurden demnach systematisch vergewaltigt. Flüchtende seien ermordet, Lebensmittellieferungen für verbleibende Zivilisten blockiert worden. Die RSF verurteilte den Vorgang als „Scheitern der USA im Umgang mit der Sudan-Krise“. Das Land offenbare zudem „Doppelstandards“.

Als Parteinahme in dem Konflikt, in dem auch der RSF-Feind, die sudanesischen Streitkräfte, erheblicher Kriegsverbrechen beschuldigt werden, wollen die USA die Verlautbarung ausdrücklich nicht verstanden wissen. Doch die Klassifizierung als Genozid, eine der letzten außenpolitischen Handlungen der Administration von Präsident Joe Biden, bringt neue Dynamik in den Krieg. Sie verpflichtet gemäß der Völkermordkonvention zu Maßnahmen, um Massenverbrechen zu verhindern.

Die dürften innerhalb des Sudans begrenzt sein. Relevanter ist, dass sich die Mitteilung so deutlich wie nie gegen die Finanzierer und Waffenlieferanten der RSF richtete: die Vereinigten Arabischen Emirate. Denn auch gegen sieben Unternehmen des Golfstaates, im Nahen Osten ein wichtiger Verbündeter der USA, wurden demnach Sanktionen verhängt. Sie hatten US-Angaben zufolge mit der RSF Waffen- und Goldhandel aus Darfurs Bergwerken betrieben.

 

Eine Zeugin dieses eindeutigen Genozid-Versuchs findet man 1200 Kilometer weiter westlich. In Sudans Nachbarland Tschad, in einer Zeltstadt nahe der Grenze. Die vollverschleierte Frau heißt Fatima, ihren Nachnamen will sie nicht öffentlich machen. Sie gehört zur Masalit-Ethnie und ist nur knapp dem Tod entronnen. Anders als viele Verwandte.

Als der Krieg am 21. April 2023, sechs Tage nach seinem Beginn, ihre Stadt El Geneina erreichte, war ihr Haus eines der ersten, das die RSF niederbrannte. Ihr ältester Bruder wurde getötet, eine Nichte gefangengenommen, wie so viele tagelang vergewaltigt. Die Armee verlor ihre Stützpunkte der Gegend, wo Fatima und andere Masalit Zuflucht gesucht hatten. Der örtliche Gouverneur wurde getötet, die Täter posteten ein Video, in dem seine verstümmelte Leiche zu sehen ist, wie ein Signal: Es gibt kein Entkommen. Fatimas Familie versuchte es. Zunächst wurde ihr Vater getötet, dann ihr Mann. Bis heute ist unklar, ob einige Verwandte leben. Oder nicht.

Nun sitzt die 25-Jährige also in einem der weißen Zelte des Flüchtlingslagers Aboutengue, wo über 40.000 Sudanesen untergebracht sind. Während ein paar Meter weiter gerade Kinder geimpft werden, bespricht Fatima mit Vertretern von Hilfsorganisationen Probleme bei der Versorgung. Es geht um Sicherheit im Lager, medizinische Versorgung, Tagelohn-Jobs bei Hilfsorganisationen, undichte Zelte, durch die das Wasser durchdringt. Oder die gleich ganz weggeweht werden. Manchmal kommen kaum Lieferungen an, zeitweise mussten die täglichen Rationen während der vergangenen Monate auf gerade einmal 1100 Kalorien pro Person reduziert werden. Zu viel zum Sterben. Zu wenig zum Leben. Sie ist froh, noch keine Kinder zu haben.

Das Trauma, das ihr Leben prägen wird, liegt nun über ein Jahr zurück. Es handele sich natürlich um einen Genozid, sagt Fatima wütend. Diesmal sei es noch brutaler als beim eindeutigen Völkermord in Darfur in den Jahren 2003 und 2004 mit bis zu 200.000 Toten, wofür maßgeblich die Miliz Janjaweed verantwortlich war, aus der die RSF entstand. „Damals haben uns die arabischen Stämme weggejagt, um ihre Herden auf unsere Felder zu bringen, es seien nicht so viele Menschen getötet worden wie bei diesem Krieg: „Jetzt wollen sie uns alle tot sehen.“

Die RSF kontrolliert fast alle größeren Orte in Darfur. Lediglich die von der RSF eingekesselte Stadt Al-Fasher ist noch in der Hand der Armee – fällt auch sie, dann wird die Miliz wohl eine Regierung für Darfur ausrufen. Es wäre das Szenario eines geteilten Landes, wie in Libyen, nur noch chaotischer. Die RSF rekrutiert sich im Wesentlichen aus gerade einmal vier der 120 Volksgruppen in Darfur. Sie wird die Region, die sie seit Jahrzehnten tyrannisiert, niemals steuern können.

Allein in El Geneina habe es über 12.000 Tote gegeben, sagt Fatima. „Ich kenne keine Familie, in der alle überlebt haben.“ Besonders für die Männer ihrer Masalit-Ethnie sei die einzige Rettung bei einer Begegnung mit RSF-Kämpfern die Imitation der Sprache anderer Volksgruppen. „Wen sie für einen Masalit halten, der wird an Ort und Stelle erschossen.“

Als studierte Psychologin ist Fatima an heftige Schicksale gewöhnt, und es ist ihr wichtig, die aktuellen Probleme des Lagers abzuarbeiten. Doch als eine Frau mit rosa Hijab neben ihr schildert, wie sie auf der Flucht von RSF-Kämpfern von ihren drei Kindern weggerissen wurde, ihr Hände und Augen verbunden wurden, sich sechs Männer an ihr vergangen, sie tagsüber mit einigen Datteln und etwas Wasser am Leben gehalten wurde, nur um die gleiche Tortur in der nächsten Nacht wieder zu erleben, da kann auch Fatima ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

 

Doch der Westen begegnet Sudans Generälen bisweilen mit fast so viel Misstrauen wie den Kriegsverbrechern der RSF. Das erzürnt die Armee, die sich als einziger legitimer Repräsentant des Staates sieht und traditionell eng mit der Regierung verwoben ist. Auch das ist ein Grund, warum sie US-Vermittlungsversuche, die gleichberechtigt an „die beiden Kriegsparteien“ adressiert sind, brüskiert abblocken. Die Wahrheit ist, dass sich beide Seiten ganz offensichtlich auf weitere Jahre des Krieges vorbereiten. Friedensverhandlungen sind in den Planungen nicht enthalten.

Die anhaltende Reserviertheit des Westens zur Armee liegt an den enorm hohen zivilen Opferzahlen bei den Luftangriffen.. An ihrer Kooperation mit lokalen Milizen, gegen die Anschuldigungen von gezielten Tötungen und Vertreibungen gibt. Und auch am Putsch des Militärs gegen die Übergangsregierung im Oktober 2021. Er bedeutete das Ende des demokratischen Aufbruchs.

Die Trennung von Religion und Staat, die unter der Übergangsregierung begonnen wurde, ist nun in weite Ferne gerückt. Sie war vom damaligen Premierminister Abdalla Hamdok vorangetrieben worden, wohlwollend begleitet von so manchem europäischen Diplomaten im Land. Es ging alles zu schnell im Sudan, der zu den konservativsten Ländern der muslimischen Welt gehört.

Am Rande der Recherche behauptet ein hochrangiger Mitarbeiter der sudanesischen Militärpolizei, die Zivilisten in der Übergangsregierung hätten nach der Revolution „von außen geplante“ Gesetze durchdrücken wollen. Sie hätten Homosexualität nicht nur legalisieren, sondern sogar Strafen für Hotelbesitzer einführen wollen, die Schwulen ein Zimmer verweigern. Eine glatte Lüge der Armee-Propagandaabteilung, für die aber breite Bevölkerungsschichten empfänglich ist.

Eine Rolle zumindest mit Bezug auf die zurückhaltende Haltung der USA könnte auch ein Vorfall drei Monate vor dem Krieg spielen. Da ließ Sudans Justiz Abdel Hamza vorzeitig aus dem Gefängnis frei. Er hatte im Jahr 2008 einen Mitarbeiter der US-Entwicklungsbehörde in Khartum erschossen, zusammen mit dessen Fahrer. Eine Todesstrafe wurde damals von Sudans Justiz in lebenslange Haft umgewandelt.

Die überraschende Freilassung kommentierten die USA damals mit „tiefer Sorge”. Der Vorfall verstärkte international den Eindruck, dass die 2019 entmachteten Muslimbrüder aus dem al-Bashir-Lager wieder zunehmend Einfluss auf die staatlichen Institutionen gewannen.

Dafür gibt es auch in diesen Tagen in Omdurman Anzeichen. Bei einer Kundgebung zur Unterstützung von Armee-Chef Burhan, dem de facto Staatschef, recken am Abend zahlreiche Teilnehmer den Zeigefinger in die Höhe – in diesem politischen Kontext ist der Tawhid eindeutig ein Islamistengruß. Das ist bemerkenswert, galt Burhan doch bei seiner Berufung an die Staatsspitze als moderat, unterzeichnete gar im Jahr 2021 eine Normalisierungsvereinbarung zwischen Israel und dem Sudan. Nun also die Hinwendung zum Iran und Russland. Beide Länder haben Botschaften in Port Sudan eröffnet, das als einer der wenigen sicheren Orte im Land zu so etwas wie der neuen Hauptstadt geworden ist. Europäische Auslandsvertretungen findet man dort nicht – und so mancher Beobachter fragt sich, ob an einer geopolitisch derart wichtigen Baustelle nicht mehr Gesprächskanäle offengehalten werden müssten.

Auch die nach der Revolution im Jahr 2019 abgeschaffte Sittenpolizei ist formell wieder eingesetzt, wenngleich sie derzeit kaum funktionsfähig ist. Sie war bis zu ihrer Auflösung im Zuge der Revolution berüchtigt für das Auspeitschen von Frauen, die keinen Hidschab trugen.

 

Was Dama und seine Freunde des „Ghadiboon“-Heeres von der Scharia als Gesetzesgrundlage halten? Die Antwort ist eher vage: „Der Sudan ist ein muslimisches Land, aber wir sind gegen ungerechte Urteile und Folter unter dem Vorwand des Islam, wie es das frühere Regime tat“, sagt einer, „wir sind einfach gegen Ungerechtigkeit, die als Religion getarnt ist.“

Dann ist der Tee leer, Dama muss los. An die Front, sie ist auf der anderen Seite des Nils, nur einige Kilometer entfernt. Auf dem Weg liegt ein großer Friedhof, der junge Mann und seine Freunde halten kurz an, springen vom Pritschenwagen. Inmitten einer Einöde liegt seit dem 29. September Taha begraben. Er hatte mit ihnen gegen die Diktatur protestiert, und nach Kriegsbeginn mit ihnen zur Waffe gegriffen. Und mit ihm waren sie auf Motorrädern in die Stadt Bahri gefahren, wo sie in einen Hinterhalt von RSF-Scharfschützen gerieten.

Einigen Ghadiboon gelang es, im Kugelhagel umzukehren. Taha nicht. Tagelang verweste seine Leiche auf der Straße, schließlich gelang den Freunden die Bergung. „Er hatte keine Chance“, sagt Dama und fährt mit der Hand durch den Berg Steine, die auf dem Grab des Freundes aufgeschüttet sind. Taha war der sechste Freund aus den Ghadiboon-Reihen, den Dama zu Grabe getragen hat.

An dem Einsatz beteiligten Soldaten saßen in gepanzerten Fahrzeugen. Eine Ungleichbehandlung will Dama darin aber nicht erkennen. „Auch die Soldaten sitzen nicht immer in  geschützten Wagen“, sagt er. Warum keiner der Freiwilligen kugelsichere Westen trug, als sie in den Hinterhalt gerieten? „Das war unsere Entscheidung, wir fühlen uns ohne mobiler.“ Reichen zwei Monate Training für so einen Einsatz? „Wir hatten da schon über ein Jahr Kampferfahrung.“

An Rauchschwaden vorbei fahren die jungen Männer an die Front in Bahri. Kurz vor der Al-Halfaya Brücke kommen ihnen Soldaten auf Geländewagen entgegen, triumphierend die Fahne des Sudans schwenkend, Freudenschüsse in die Luft feuernd angesichts jüngster militärischer Erfolge im traditionellen Machtzentrum des Landes, wo Analysten auch die Rückeroberung von Khartum in einigen Monaten für möglich halten.

Bald aber kehrt nervöse Stille auf dem Pritschenwagen der Ghadiboon-Freiwilligen. Die Gegend gilt in der Armee-Rhetorik als „befreit“ von der RSF, aber es kommt weiterhin zu Angriffen von Scharfschützen. Die Männer denken an Taha.

Auf der anderen Seite des Nils warten erschreckende Szenen: menschenleere Straßen, gerahmt von ausgebrannten Autos und löchrig geschossenen Häusern. Überleben scheint in diese Apokalypse unmöglich. Doch einer der Soldaten im Konvoi bittet um einen Umweg. In einer Seitenstraße, inmitten des staubigen Schleiers des Krieges, überlebt Samira Bahir Kambal, eine alte Frau mit hennagefärbt rötlichem Haar, leuchtend blauem Dschilbab-Kleid und zerfurchtem Gesicht. Sie ist in diesem Haus geboren, hat ihren Sohn dort geboren, ihn aufgezogen – zu fliehen kam nie in Frage. Besonders die älteren Sudanesen seien stur, erzählt man sich, nicht ohne Stolz. In Bahri lebt der Beweis.

Kambal weigerte sich zu fliehen, als die RSF schon wenige Tage nach Kriegsbeginn ihr Viertel besetzte. Die betagte Dame hat das Haus seit Kriegsbeginn nicht verlassen. Bald ist das zwei Jahre her. Mal brachten die wenigen verbliebenen Nachbarn Suppe, mal überwiesen Verwandte aus dem Ausland etwas Geld. Dann zog ihr Sohn Ayman unter Lebensgefahr los zu einem der wenigen verbliebenen Märkte – selbst nachdem er von RSF-Truppen verdächtigt wurde, ein Soldat zu sein und verprügelt wurde. Und auch, nachdem sie selbst ausgepeitscht wurde, nachdem sie sich darüber bei Kommandanten der Miliz beschwert hatte. „Nachts habe ich kein Auge zugemacht“, sagt sie, „ich blieb wach, aus Angst vor Plünderern.“

Dama, der einstige Fußballprofi an der Waffe, sitzt still am Rande des Innenhofes, während er den Erzählungen zuhört. Die der alten Frau. Und der von einer ihrer Freundinnen, die gerade völlig aufgelöst aus ihrem von der RSF zerstörten Haus gekommen ist, in das sie erstmals seit Kriegsbeginn zurückgekehrt war.

Der Blick des jungen Mannes ist leer, ohne Wut. Aber in diesem Moment auch ohne Hoffnung. Dama weiß, wie sich der drohende Verlust der Heimat anfühlt. Von seinem alten Leben, den alten Träumen, ist ihm selbst kaum mehr als ein ausgewaschenes Trikot seines alten Vereins geblieben. Es liegt in der Ghadiboon-Unterkunft in Omdurman, in einer Schublade.

Er hat es lange nicht mehr getragen. Aber er behält es.