Im Schatten des Baumes

Konsequenter als die meisten Länder arbeitet der Benin seine Geschichte der Sklaverei auf – und widmet sich dabei auch zunehmend der Rolle afrikanischer Sklavenhändler. Ein Besuch bei ihren Nachfahren
Der Baum steht auch nach Jahrhunderten noch vor dem Haus, ein stummer Zeuge unermesslichen Leids. Im Schatten der schlaff hängenden Blätter gingen einst Generationen von Gefangenen dreimal um den majestätischen Stamm. Die letzten Schritte Hunderttausender Sklaven auf westafrikanischem Heimatboden, bevor sie über den Atlantik verschifft wurden. Zur Ware degradiert. Das Ritual sollte gemäß der Voodoo-Kultur der Seele helfen, nach dem Tod in die afrikanische Heimat zurückzufinden. „Arbre du retour“, nennen sie das alte Gehölz hier in Benins Küstenort Ouidah: Baum der Wiederkehr.
Der Schatten des Baumes lastet schwer auf Martin Kakanakou, 72. Jeden Morgen, wenn er seine Tür öffnet. Seine Familie lebt seit Ende des 18. Jahrhundert auf dem Grundstück, damals entsandt vom mächtigen Königreich Dahomey. Noch Kakanakou Ururgroßvater war verantwortlich dafür, dass die verkauften Gefangenen der Dahomey ordnungsgemäß auf den Schiffen der europäischen Händler landeten.
Die Aufarbeitung der Sklaverei begleitet den Ort seit weit über Hundert Jahren, nachvollziehbarerweise lange vorwiegend mit Blick auf die schändliche Rolle der Europäer, die mindestens zwölf Millionen afrikanische Sklaven kauften für die Arbeit auf den Plantagen der Kolonien in Nord- und Südamerika. Rund zwei Millionen wurden von Hafen in Ouidah aus verschifft.
Die historische Schuld der Europäer dominiert auch im Westen die Debatte, die durch die BLM-Bewegung, den Sturz kolonialer Denkmäler und die Forderungen nach Reparationen neu angefacht wurde. So manche Stimme aber, die sich nicht um ein relativierendes, sondern ein umfangreicheres Bild bemühte, ging dabei weitgehend unter.
Die des französisch-senegalesischen Anthropologen Tidiane N’Diaye etwa, der sich in seinem Buch „Der verschleierte Völkermord – die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika“ (2010) mit den Auswirkungen des orientalischen Sklavenhandels auseinandersetzte. „Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der von den erbarmungslosen arabomuslimischen Räubern betriebene Sklavenhandel weitaus verheerender für Schwarzafrika war als der transatlantische Sklavenhandel.“ Er beziffert die Zahl der in muslimische Länder Verschleppten aus Afrika auf 17 Millionen.
Noch weniger ist über den innerafrikanischen Sklavenhandel oder die Beteiligung afrikanischer Königreicher wie den Dahomey bekannt – ein Umstand, an dem die Netflix-Hollywood-Produktion „The Woman King“ (2022) wenig änderte. Im Gegenteil. In dem Film über eine Frauen-Kampfeinheit der Dahomey werde heruntergespielt, dass das Königreich „seinen Reichtum aus der Gefangennahme von Afrikanern für den transatlantischen Sklavenhandel“ bezogen hat,diagnostizierte die progressive „NY Times“.
Und das ebenfalls nicht gerade als konservatives Leitmedium bekannte Blatt „New Yorker“ erkannte gar eine „zynischeGeschichtsverfälschung“. Bezeichnenderweise waren es vor allem Influencer in westafrikanischen Ländern, die in den sozialen Netzwerken den Hashtag #boycottwomanking verbreiteten, etwa in Nigeria, wo die Dahomey nach erfolgreichen Kriegen jahrhundertelang Menschen versklavt hatten.
Kakanakou braucht keine Filme, um das Thema aufzuarbeiten. Der Baum ist seine stetige Erinnerung, er blickt von seinem Sofa durchs Fenster auf ihn. „Ich habe mich oft gefragt, wie meine Leute imstande waren, ähnliche Menschen wie sie selbst zu verkaufen, ihnen so viel Leid anzutun“, sagt er, „ich schäme mich dafür. Das ist auch etwas, das wir hier immer wieder besprechen.“
Die Wirtschaft des Königreiches basierte schon vor Ankunft der europäischen Händler im erheblichen Maß auf Sklaven, die Felder bestellten. Die hoch militarisierten Dahomey-Kämpfer waren Komplizen der Europäer, die sich von ihnen die Sklaven an die Küste bringen ließen. Eigene Raubzüge waren nicht nötig und wurden von den Händlern schon allein wegen mangelnder Medizin gegen tödliche Tropenkrankheiten als zu gefährlich erachtet. Man kam, brachte Hunderte Sklaven an Bord – und verschwand.
In den vergangenen Jahrzehnten befasste sich Benin zunehmend intensiv auch mit diesem eigenen Kapitel seines Nationaltraumas. Erstmals kam es im größeren Rahmen im Jahr 1992 bei der Ausrichtung einer internationalen Konferenz zur Sprache. Und einige Jahre später sorgte der damalige beninische Präsident Matthieu Kérékou für Aufsehen, als er in den USA vor afroamerikanischen Religionsführern auf die Knie ging, um sich für die historische Schuld seines Landes zu entschuldigen. Das sticht hervor in der Region, lediglich in Ghana gab es in ähnlichem Umfang Eingeständnisse.
Auch Benins aktueller Präsident Patrice Talon widmet sich dem Thema. Sein Vater stammte aus Ouidah, die Vorfahren der Mutter gehörten zum Dahomey-Königreich. Politische Gegner warfen Talon im Wahlkampf entsprechend vor, dass seine Familie ebenfalls Beihilfe zur Sklaverei geleistet habe. Derzeit entstehen zwei teilweise von der Weltbank finanzierte Museen. Und in Ouidah wird in einer künstlichen Lagune ein Sklavenschiff nachgebaut. Es geht um den Ausbau des Tourismus, dringend benötigte neue Arbeitsplätze. Und wohl auch ein wenig darum, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Wer vor Ort mit Fremdenführern spricht, der trifft nicht auf Dementi. Aber auf Erklärungen. Ohne Kooperation hätten die Europäer wohl schlicht rivalisierende Gruppen unterstützt, sagt einer, es sei um Selbsterhalt gegangen. Und ja, auch die Dahomey hätten zahlreiche Sklaven gehabt. Die heimische Form der Sklaverei sei aber weit humaner und oft auch nicht auf Lebenszeit konzipiert gewesen. Dass es immer wieder auch rituelle Hinrichtungen von Sklaven gab, erwähnt der Mann nicht.
Zur Geschichte gehört aber auch, dass sich in den 1840er Jahren der damalige Dahomey König Ghezo vehement wehrte gegen die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels, was Großbritannien letztlich sogar mit patrouillierenden Schiffen vor Benins Küste durchsetzte. „Der Sklavenhandel war das vorherrschende Prinzip meines Volk, er ist die Quelle ihres Ruhms und Reichtums“, sagte Ghezo gemäß der Aufzeichnungen des britischen Diplomaten Richard Burton, der damals zu Verhandlungen nach Dahomey geschickt worden war, „ihre Lieder feiern ihre Siege und die Mutter wiegt das Kind mit Triumphklängen über einen zur Sklaverei verurteilten Feind in den Schlaf.“
Die Aufarbeitung der Geschichte passiert auch im Restaurant von Leocardia de Souza in Ouidah, ein einfacher Steinbau mit Plastikstühlen. Zumindest manchmal. Ihr Nachname ist der häufigste im Ort, sie gehört zu den vielen Nachfahren des Brasilianers Francisco Félix de Souza, einem der wichtigsten Sklavenhändler des 19. Jahrhunderts. Er ließ sich einst in Ouidah nieder, das opulente Haus steht noch heute frisch renoviert neben dem einstigen Sklavenmarkt – König Ghezo erfand für ihn den Titel „Cha-Cha“, eine Art Chief. Noch heute gehört der Klan zu den einflussreichsten des Landes. Sie stellte im Laufe der Jahrzehnte mehrere Minister, einen Bischof und eine ehemalige First Lady. „Wir reden in Afrika noch immer nicht genug über die Vergangenheit“, findet Leocardia de Souza, 53, während sie Hühnchen mit Reis serviert. „Wir haben eine Mitverantwortung am Sklavenhandel”, sagt sie, „nicht nur die Weißen.
Wenn die Leute ihren Namen hörten, würden sie Reichtum vermuten, „dabei hat mein Teil der Familie außer dem kleinen Familiengrundstück nichts geerbt.“ Aber auch sie kennt Schuldgefühle. Als zum Beispiel neulich Nachfahren von Sklaven aus den USA auf der Suche nach ihren Familienwurzeln anreisten und bei ihr einkehrten. Noch Tage später dachte die Gastwirtin daran, dass sich die Wege ihrer Vorfahren zwei Jahrhunderte zuvor auf unheilsame Weise gekreuzt hatten.
Das Thema köchelt unter der Oberfläche der beninischen Gesellschaft, wo Seite an Seite mit dem Dahomey-Volk Ethnien wie die Yoruba leben, die einst in Massen von ihnen versklavt wurden. Und noch heute gehören viele Nachfahren des Dahomey-Königreichs der wirtschaftlichen und politischen Elite an, in einigen Gegenden haben sie auch als Chiefs weiterhin das Sagen. Während der ersten 15 Jahre seiner Unabhängigkeit hieß Benin „Republik Dahomey“.
Diese Spannungen hat Kakanakou bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Sklaverei am eigenen Leib erfahren. Hunderte waren für eine Rede eines Politiker gekommen. Als dieser über die Rolle von Dahomey sprach, zeigte jemand in der Menge auf Kakanakou, der wie – in gewisser Weise ähnliche wie die Vorfahren – für die staatliche Verwaltung arbeitet: „Das war deine Familie“, rief er laut. Der Beschimpfte schwieg nur, als sich Hunderte Blicke auf ihn richteten.
„Ich habe innerlich geweint“, erinnert sich der alte Mann, „dieser Moment war ein großer Schock.“ Nächtelang habe er nicht geschlafen, sich gefragt, wieviel Schuld seine Vorfahren treffe. Und damit irgendwie auch ihn. „Sie hatten keine Wahl, der König hatte diese Aufgabe für sie bestimmt“, sagt er heute. Ja, Dahomey habe finanziell profitiert. Aber seine Familie habe damals nicht einmal ein regelmäßiges Honorar bekommen, lediglich ein Feld für den Agraranbau zugeteilt bekommen.
Der Vorfall ist inzwischen einige Jahre her, seitdem gab es keine derartige Anfeindung mehr. Der Schatten des Baumes aber, der legt sich lastend jeden Tag auf ihn.