Christian Putsch

Der Existenzkampf eines Atheisten in Nigeria

Christian Putsch
Der Existenzkampf eines Atheisten in Nigeria

In wenigen Gegenden leben Atheisten so gefährlich wie im Norden Nigerias. Ein Ingenieur hat dort dennoch dem Islam abgeschworen – und kam dafür vier Jahre lang ins Gefängnis. Ein Telefonat

Nach einigen Monaten nahm ihn ein Gefängniswärter zur Seite. Er habe gehört, dass einige Häftlinge planen würden, ihn zu hängen, sagte der Beamte zu Mubarak Bala. Man werde versuchen, ihn zu schützen. Aber sicherer wäre es, wenn er zumindest so tun würde, als habe er seinen Glauben wiedergefunden.

Bala überlegte kurz. Dann stimmte er zu, zum Schein wieder an den täglichen Gebeten teilzunehmen. Seit fast zwei Jahren saß er zu diesem Zeitpunkt schon im Gefängnis, verurteilt in Nigerias nördlichen Millionenstadt Kano, nachdem er in 18 Anklagepunkten wegen Blasphemie in einem islamkritischen Facebook-Post schuldig gesprochen worden war. Zunächst betrug das Strafmaß 24 Jahre. Gerade aber war es auf vier Jahre reduziert worden.

Der 40-Jährige verstellte sich also, weil er das Gefängnis überleben wollte, irgendwie. Für sich, seinen Sohn, seine Frau, andere Atheisten in Nigeria. Selbst wenn das bedeutete, dass er einen Glauben vorgeben musste, dem er nicht mehr angehörte. In den überwiegend muslimischen Bundesstaaten im Norden Nigerias gilt, anders als im christlichen Süden des Landes, die Scharia-Gesetzgebung. Sie war die Basis für das Urteil, zu dem Nigerias Justiz eine Anfrage dieser Zeitung unbeantwortet ließ. Im Gefängnis in Kano, wo 2000 Muslime einsaßen, waren einige der Meinung, dass Bala laut der islamischen Gesetze gar die Todesstrafe verdient hatte.

Bala hat überlebt. Seit fünf Monaten ist er wieder frei, lebt in der Hauptstadt Abuja, deren Bürger ausschließlich der säkularen Rechtsprechung Nigerias unterliegen. Während der Haft hat er zehn Kilogramm abgenommen. Sie zeichnet ihn bis heute. Er nehme Medikamente, sagt Bala am Telefon, ohne auf seine Gesundheit konkret einzugehen. „Ich musste immer selbst schauen, wie ich überlebe – das galt im Gefängnis und das gilt auch jetzt.”

Sein in örtlichen Medien weiterhin lebhaft diskutierter Fall wirft ein Schlaglicht auf die Situation der Atheisten in Afrika. Statistische Erhebungen zu ihnen sind rar, die prominenteste ist von der amerikanischen Denkfabrik „Pew Research Center” und 15 Jahre alt. Sie beziffert den Anteil der „religiös Ungebundenen”, zu denen Atheisten gezählt wurden, an der Bevölkerung in Subsahara-Afrika auf rund drei Prozent, lediglich im Nahen Osten und in Nordafrika lag dieser Prozentsatz mit 0,6 noch niedriger. In Deutschland beschreiben sich einer Umfrage aus dem Jahr 2022 zufolge etwa elf Prozent der Bevölkerung explizit als Atheisten, während sich 23 Prozent als nicht-religiös identifizieren.

Wie riskant das im Norden Nigerias sein kann, hat Bala hinlänglich erfahren müssen. Sie geht dort in der Regel mit der Abwendung vom Islam einher. Eine Konvertierung zum Christentum wäre weniger gefährlich gewesen, sagt er. Schließlich gehört die Mehrheit der Bevölkerung im Süden, rund die Hälfte des Landes, der Religion an – die Kirchen gelten als äußerst einflussreich, hätten Druck ausüben können. „So aber war ich allein”, so Bala, dessen Familie während seiner Haft allerdings von internationalen Spenden unterstützt wurde.

Schon während seines Studiums wuchsen bei Bala die Zweifel an seiner Religion. Seine Eltern schleppten ihren erwachsenen Sohn zwischenzeitlich gar zu einem Psychiater. Für sie war die einzige Erklärung, dass er den Verstand verloren hatte. Und eine entsprechende Diagnose hätte ihn womöglich vor einer Verurteilung geschützt.

Bala aber ist nicht verrückt. Er ahnte, dass es Todesdrohungen geben würde, war sich im Klaren darüber, dass er zumindest Probleme bei der Suche nach einer Frau haben werde. Selbst die Suche nach Job und Wohnung würde sich schwierig gestalten, so berichten es auch Atheisten in anderen Ländern, wie etwa dem überwiegend christlichen Kenia.

Letztlich war es der um das Jahr 2009 aufkeimende islamistische Terror, der für Bala den Ausschlag gab, sich in dieser Deutlichkeit vom Islam abzuwenden. „Ich habe Videos gesehen, in denen Boko Haram christliche Frauen geköpft hat”, sagt der Atheist, „das hat mich völlig gebrochen.” Und derartige Verbrechen ließen für ihn durchaus allgemeinere Rückschlüsse auf die Religion zu.

Die oft aufgestellte Behauptung, dass die Terroristen entgegen und nicht im Sinne des Islams handeln, hält er für falsch. „Niemand, der den Islam wirklich versteht, sieht ihn als eine friedliche Religion an”, sagt er. Hinter dieser Deutung stecke der tiefe Wunsch nach einem friedlichen und toleranten Leben. „Die Doktrin ist dagegen. Das ist ein Konflikt, also projizieren sie ihr eigenes Inneres auf die Religion. Sie wollen, dass es so ist, sie wollen es hoffen.” Wenn man einen von seiner Kultur auferlegten Gott verehre, dann hoffe man nichts mehr, als dass dieser Gott gnädig sei. Ein Trugschluss, sagt Bala.

Die Haltung westlicher Länder gegenüber Zuwanderung aus muslimischen Ländern hält er entsprechend für „naiv”. Europäische Politiker, die den Islam für eine friedliche Religion halten würden, hätten vermutlich wunderbare Muslime kennengelernt. „Und davon gibt es ja natürlich auch Unzählige”, sagt Bala. Doch die Lehre des Islams stimme aus seiner Sicht damit nicht überein – und so werde es immer Nährboden für Terror geben.

Derartige umstrittene Aussagen trifft er weiterhin in nigerianischen Medien, so dass die Kontroversen um ihn nicht abreißen. Manchmal plagen ihn deshalb wegen seiner Familie Gewissensbisse. Gegenüber dem Sohn, der erst sechs Wochen alt war, als Bala inhaftiert wurde. Und gegenüber seiner Frau. „Das alles hat sie mehr getroffen als mich.” Über ihre Religionszugehörigkeit spreche er öffentlich nicht. Um sie zu schützen.

Bis heute weiß Bala nicht so recht, ob er in Nigeria bleiben soll – oder nicht. Es habe Angebote von Bürgerrechtsorganisationen aus Europa und Nordamerika gegeben, zumindest einige Monate im Ausland zu verbringen. Durchatmen. Kongressabgeordnete aus den USA haben ihn kontaktiert, wollen helfen.

Bala zögert noch. Er braucht eine Pause, aber dauerhaft will er das Land nicht verlassen, hofft weiterhin auf mehr Toleranz. Bis zu dem Tag, an dem er sich öffentlich zum Atheismus bekannt habe, sei ihm kein einziger Atheist in Nigeria bekannt gewesen, sagt er. Das sei nun anders. „Wir kommunizieren über WhatsApp und Telegram. Zuerst waren es Dutzende, dann Hunderte, dann Tausende.” Selbst zu einem Treffen in Abuja seien vor Kurzem fast 100 Menschen gekommen.

„Wenn ich auswandere, dann ist das doch wie ein Signal”, sagt Bala, „dann ändert sich nie etwas.”