„Ein hochinfektiöses Virus kann man sowieso nicht auf Dauer unter Kontrolle halten“
Der Zugang zum Labor der Universität Stellenbosch wird streng überwacht, gleich an zwei Kontrollen werden die Personalien mit den Besucherlisten abgeglichen. Grund sind Drohschreiben, die am Sonntag bei führenden Virologen Südafrikas eingegangen sind – darunter dem Deutschen Wolfgang Preiser, der an der Universität die Abteilung für medizinische Virologie leitet. Die Forscher waren an der Entdeckung von Omikron beteiligt. Im Interview spricht Preiser über die bisherigen Erkenntnisse zu der neuen Virusvariante, die Pandemielage in Südafrika – und warum er sich nicht einschüchtern lässt.
WELT: Die Polizei hat Ihnen Personenschutz angeboten. Was ist passiert?
Wolfgang Preiser: Ich habe Drohungen erhalten, wie auch etliche weitere Kollegen des Konsortiums, das die Omikron-Variante entdeckt hat. Vermutlich von Südafrikanern, die Auswirkungen auf ihr Geschäftsleben befürchten wegen der Reisebeschränkungen und anderer Maßnahmen. Die schieben uns die Schuld in die Schuhe, schließlich hätten wir diese Variante entdeckt und öffentlich gemacht – also das ganze Desaster erst angerichtet.
WELT: Was stand in dieser Drohung?
Preiser: Dass sie wissen, wo wir wohnen. Man solle sich ein Beispiel an China nehmen, wo Leute wie wir unter Kontrolle gehalten würden. Wenn sie dann aufmüpfen, würden sie beseitigt, hieß es. Das Zurückhalten von Informationen über eine möglicherweise gefährliche Variante lehne ich aber natürlich als völlig unethisch ab. Südafrika ist wie alle Länder aufgrund der Internationalen Gesundheitsvorschriften völkerrechtlich dazu verpflichtet, derartige Erkenntnisse zu melden. Wir sind froh, dass durch diese frühe Meldung unseres Fundes in vielen Ländern Anstrengungen unternommen werden, um Omikron-Fälle zu entdecken. Das ist unser Verdienst.
WELT: Werden Sie den Personenschutz in Anspruch nehmen?
Preiser: Nein, ich fühle mich sicher. Aber ich bin froh, dass die Sicherheitsbestimmungen im Labor weiter verschärft wurden.
WELT: Das ist ein extremes Beispiel. Können Sie denn die generelle Frustration angesichts der internationalen Abschottung verstehen?
Preiser: Absolut. Ich bin ja auch persönlich betroffen und werde meine Familie über Weihnachten nicht besuchen können. Das große Problem ist gewissermaßen, dass Südafrika einen fantastischen Job macht. Das Land hat seit eineinhalb Jahren ein sehr gutes Überwachungssystem aufgebaut, übrigens aus Landesmitteln finanziert – internationale Geldgeber kamen erst viel später dazu. So haben wir vor einem Jahr die Beta-Variante entdeckt. Und nun Omikron. Man fühlt sich dafür bestraft, dass man genau das macht, was eigentlich alle Länder machen sollten. Nämlich zu prüfen, ob sich das Virus verändert.
WELT: Was wissen Sie über die Übertragbarkeit der Virusvariante?
Preiser: Wir haben einige große Ausbrüche festgestellt. Etliche waren feuchtfröhliche Jahresabschlussfeiern von Studenten – man kann sich vorstellen, dass da die Masken nicht getragen werden. Die Frage ist, ob da ein verändertes Virusverhalten eine Rolle spielt, oder ob sich jede Variante des Coronavirus hätte ausbreiten können. Das werden die weiteren Untersuchungen jetzt relativ bald ergeben.
WELT: Am Wochenende sagte die Vorsitzende der südafrikanischen Ärztevereinigung, Angelique Coetzee, sie habe bislang nur Omikron-Patienten mit milden Symptomen erlebt. Wie belastbar ist diese Aussage?
Preiser: Sie ist ja niedergelassene Ärzte, und als solche sieht sie keine schwerkranken Fälle. Ihre Patienten sind zudem überwiegend junge Leute. Es ist noch früh. In der Regel dauert es nach der Infektion zehn bis 14 Tage oder noch länger, bis jemand schwerkrank wird und ins Krankenhaus muss. Wir können nur abwarten und sehr engmaschig untersuchen.
WELT: Welchen Schutz bietet eine Impfung oder überstandene Infektion?
Preiser: Auch das ist reine Spekulation. Es laufen Untersuchungen mit Patienten und mit Zellkulturen. Wir müssen von einer Immunvermeidungsfähigkeit ausgehen. Inwieweit es dann schlimmer ist als bereits bekannten Varianten, das werden wir bald wissen.
WELT: In der Provinz Gauteng gab es eine Verdreifachung der Covid-bedingten Krankenhauseinlieferungen innerhalb von zwei Wochen. Sehen Sie das nicht bereits als beunruhigendes Anzeichen?
Preiser: Doch, genau deshalb haben wir gedacht, dass der Zeitpunkt gekommen ist, um das publik zu machen. Damit sich andere Länder darauf vorbereiten können und die Verbreitung nach Möglichkeit eindämmen. Die Zahlen in Kapstadt sind noch gering, aber auch hier laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Traurig ist daran, dass man gerade Krankheitsfälle aufgearbeitet hat, die wegen der vorangegangenen Infektionswellen aufgeschoben waren. So haben etwa Tuberkulose-Diagnostik und HIV-Therapie gelitten. Wie in Europa wurden zudem Operationen für Krebspatienten hintenangestellt.
WELT: Lässt die Entwicklung der vergangenen Wochen auf ein höheres exponentielles Wachstum als bei früheren Infektionswellen schließen?
Preiser: Wir reden noch von relativ geringen Fallzahlen. Ich muss im Moment davor warnen, zu viel in frühe und vor allem unvollständige Daten hineinzuinterpretieren. Ich verstehe den Drang dazu, aber das kann sehr in die Irre führen. Klar ist: Das Mutationsmuster ist äußerst besorgniserregend. Und die Vermutung, dass es sich im Patienten auch so auswirkt, liegt sehr nah.
WELT: 87 Prozent der Covid-Patienten in Pretoria sind aktuell ungeimpft. Wie aussagekräftig ist diese Zahl angesichts einer Impfquote, die deutlich geringer ist als in Europa?
Preiser: Weithin stimmen wir mit Kollegen überein, dass bei Omikron selbst bei verminderter Wirksamkeit der Impfstoffe immer noch Impfung und zeitnahes Boostern die Mittel der Wahl sind. Das ist ganz eindeutig. Wir reden von 10, 20 vielleicht 30 Prozent verminderter Wirkung. Aber gegen schwere Erkrankung und Tod, vor denen die Impfstoffe vor allen Dingen schützen sollen, wird die Impfung auch bei Omikron das beste Mittel bleiben. Das ist ganz klar die Nachricht. Man sollte nicht auf einen neuen Impfstoff warten, es nicht darauf ankommen lassen.
WELT: Die meisten afrikanischen Nationen haben noch immer zu wenig Zugriff auf Impfstoffe. Ist Omikron ein Weckruf für mehr Impfsolidarität mit Entwicklungsländern?
Preiser: Absolut. Und natürlich für mehr Unterstützung bei der Überwachung. Sollte das Virus tatsächlich in Südafrika entstanden sein, kann das hierzulande allerdings nicht auf mangelnde Impfstoffverfügbarkeit zurückgeführt werden, sondern allenfalls auf die Tatsache, dass sich zu wenige impfen lassen. Sollte es aber aus anderen afrikanischen Ländern gekommen sein, was wir nicht wissen, dann wäre das möglicherweise eine Folge der sehr ungenügenden Versorgung mit Impfstoffen. Das sind enorme Herausforderungen, und man darf diese Länder bei der Umsetzung nicht alleine lassen. Das haben wir ja seit langem gesagt: Diese Pandemie mit ständig neuen Varianten bekommen wir nur unter Kontrolle, wenn die Weltbevölkerung geimpft ist.
WELT: Ihr Kollege Tulio de Oliveira hat gewarnt, dass womöglich Materialien für Sequenzierung und Tests wegen des eingeschränkten Flugverkehrs knapp werden könnten. Teilen Sie diese Befürchtung?
Preiser: Ja, allerdings. Da gibt es große Schwierigkeiten. Und umgekehrt. Die ganze Welt möchte jetzt von uns die Omikron-Variante als Virusisolat haben, vor allem die Amerikaner, die ja noch keine klinischen Fälle haben. Beim letzten Mal vor einem Jahr, als es um die Beta-Variante ging, hat es Monate gedauert, bis alle Genehmigungen eingeholt waren, um die Proben zu verschicken. Es ist wahnsinnig, dass man die Wissenschaft so vollkommen unnötig erschwert. Dabei weiß man, dass man ein hochinfektiöses Virus sowieso nicht auf Dauer unter Kontrolle halten kann. Das Augenmerk wird teilweise vollkommen abstrus auf die falschen Prioritäten gerichtet. Ende der Woche werden wir die Omikron-Isolate haben. Ich bin gespannt, wie viele unnötige Hindernisse uns dann in den Weg gelegt werden, bis diese Isolate dann in New York ankommen.