Sprachlos in Lagos
32 der 100 weltbesten Scrabble-Spielern kommen aus Nigeria. Unterwegs mit dem Superstar der Brettspielszene, Wellington Jighere – dem ersten Weltmeister aus Afrika. Er lebt von der Suche nach Wörtern
Von Christian Putsch
Lagos – Als Treffpunkt hat der Scrabble-Champion ein kleines Turnier in einem unscheinbaren Tagungszentrum am Rande von Lagos vorgeschlagen. An 30 kleinen Tischen sitzen sich Spieler im grellen Neonlicht eines Konferenzraumes gegenüber. Wer am Ende des Tages gewinnt, bekommt umgerechnet 180 Euro und darf in einigen Wochen bei der Meisterschaft des Bundesstaates mitmachen.
Dafür ist Wellington Jighere, der Weltmeister des Jahres 2015, längst qualifiziert. Er tritt also bei diesem Turnier nicht an. Aber der 35 Jahre alte Profi liebt die Atmosphäre. Diese konzentrierte Stille, die bei einer derartigen Ansammlung von Menschen in Lagos wohl in dieser Form nur bei Scrabble-Veranstaltungen zu finden ist. Durchbrochen nur vom Klicken der Buchstabensteine. Oder dem Raunen der Zuschauer, wenn sich ein spannendes Spiel dem Ende nähert. Es ist der leise Soundtrack seines Lebens.
Hier ist er ein Superstar. Ein Fernseh-Team der „BBC“ ist gekommen, um ihn zu interviewen. Spieler sprechen ihn an, fragen um Rat. Seit Jighere vor drei Jahren in Australien als erster Afrikaner überhaupt den WM-Titel und ein Preisgeld von 10.000 Dollar (8502 Euro) gewann, hat er Prominentenstatus. Eine enorme Leistung, zumal er erst kurz vor der ersten Partie in Perth angekommen war. Das Gastgeberland hätte ihm beinahe das Visum verweigert – ein immer wiederkehrendes Problem der nigerianischen Scrabble-Spieler bei internationalen Turnieren.
Nur Stunden nach seinem Triumph rief Nigerias Präsident Muhammadu Buhari an und gratulierte, einige Wochen später wurde er mit seinen Teamkollegen, den Gewinnern der Mannschaftswertung, von dem Politiker offiziell bei einem Empfang in der Präsidentenvilla geehrt. Denn in Nigeria ist Scrabble kein bloßes Brettspiel, sondern eine von 30 staatlich geförderten Sportarten. Der erfolgreichste des Landes. Von den besten 100 Spielern der Weltrangliste für englische Wörter stellt Nigeria derzeit 32, mehr als jede andere Nation. Jighere ist als Vierter weiterhin bester Afrikaner. Für Zehntausende Scrabble-Spieler des Landes bleibt er das Idol.
Ein angenehm bescheidenes noch dazu. Am Rande des Raumes spricht er über seine Leidenschaft, mit gesenkter Stimme, so dass ja niemand während der dritten Spielrunde des Tages gestört wird. „Das ist ein mental wahnsinnig anstrengender Sport, der nur mit viel Arbeit funktioniert“, sagt er, „das hält mich auch sonst fokussiert. Manchmal aber gibst Du Dein Bestes und verlierst trotzdem. Du kannst Dir nie sicher sein, wie im richtigen Leben. Das mag ich.“
Ein Zufall ist der Erfolg der Nigerianer nicht. Seit britischen Kolonialzeiten ist Scrabble populär, es wird in vielen Schulen und an den meisten Universitäten gespielt. Der Verband ist in allen 36 Bundesstaaten weit verzweigt, als Teil der nationalen Sportförderung bezahlt die Regierung einige Trainer und Administratoren.
Jighere besucht seinen ersten Trainer, den ehemaligen Armee-General Gold Eburu, der am Rande von Lagos in einem unscheinbaren Haus lebt. „Scrabble wurde in den sechziger Jahren vor allem von Leuten verbreitet, die eine Zeit lang in Europa verbracht hatten“, sagt er, „als ich 1972 in die Armee eingetreten bin, hatten wir abends Ausgangssperre. Wir haben ewige Zeiten Scrabble gespielt, um uns die Langeweile zu vertreiben.“
Der 68-Jährige ist einer der Pioniere des Spiels, spielte bei den ersten großen Turnieren während der achtziger Jahre mit und wurde 1989 der erste Präsident des nationalen Verbands. „Scrabble gehört inzwischen zu unserer Identität, es ist ein fantastischer Denksport.“ Weit bemerkenswerter als die Unterstützung durch die Regierung sei das private Engagement der Spieler. „Viele Turniere und Teilnahmen an großen internationalen Turnieren sind nur möglich, weil wir die Mittel selbst zur Verfügung stellen.“
Allein in Lagos gibt es zehn privat finanzierte Scrabble-Akademien. Auch Jighere plant die Eröffnung einer entsprechenden Schule. Online gibt er bereits gegen Gebühr Unterricht, der geschickte Vermarkter verkauft auch seine eigenen Brettspiele. „Scrabble hat viele Parallelen zu Schach“, sagt Jighere, „die Strategie ist ein wichtiger Faktor, das Vorausplanen. Aber auch die körperliche Fitness.“ Er geht Laufen und ins Fitnessstudio, um für die langen Turniertage bereit zu sein. Dort trinkt er dann mehrere Liter Wasser, um nicht zu dehydrieren.
Doch die Begeisterung hat auch kulturelle Gründe. Nigerias Bürger reden gerne viel und das oft laut, über 500 Sprachen werden hier gesprochen, Englisch ist die am weitesten verbreitete. Die Kultur des Geschichtenerzählens und langer Diskussionen ist in Afrikas einwohnerreichsten Land (190 Millionen) besonders stark ausgeprägt. Mit Chinua Achebe, Wole Soyinka und zuletzt Chimamanda Ngozi Adichie („Die Hälfte der Sonne“) hat Nigeria einige der berühmtesten afrikanischen Schriftsteller hervorgebracht – die Liste ließe sich lange fortführen.
Hinzu kommt eine lange Geschichte von Brettspielen in Afrika, die weit in die vorkoloniale Zeit zurückreicht. Mit ihnen werden teilweise bis heute Werte und kognitive Fähigkeiten vermittelt. In Nigeria ist das in Ghana entstandene Oware-Spiel populär, bei dem Pflanzensamen verschoben werden. Der Name bedeutet so viel wie „er heiratet“ – basierend auf der Legende, der zufolge ein Mann und eine Frau das Spiel über Jahre spielten und letztlich heirateten. Das im südlichen Afrika populäre „Morabaraba“ simuliert dagegen Strategien zum Zusammentreiben einer Rinderherde geübt. In einer ganzen Reihe von traditionellen Spielen geht es darum, Schlachten zu gewinnen.
Inzwischen ist Scrabble eines der populärsten Spiele. Jighere bekam es von seinem älteren Bruder beigebracht. Er finanzierte sich das Studium der Agrar-Wirtschaft mit Turnieren. „Danach war ich zu gut, um das Spiel an den Nagel zu hängen“, sagt Jighere, der das Hobby zum Beruf gemacht hat. An der Spitze der 4000 Spieler in Nigeria, die Scrabble leistungsorientiert betreiben, kann man nur als Profi bestehen, sagt er.
Sein Training ist zeitaufwändig. Vor Wettkämpfen spielt er vier bis fünf Stunden täglich gegen die besten Spieler des Landes. Aber er nutzt auch eine recht einsame Methode, die er schlicht „Ausstreichen“ nennt. Dafür nimmt er das Collins-Wörterbuch, dessen Wörter als Buchstabenkombinationen akzeptiert sind, und streicht täglich Seite für Seite alle Wörter durch, die ihm bekannt sind. Wenn eine neue Edition herauskommt, konzentriert sich Jighere auf die neu im Lexikon aufgenommen Begriffe. Hin und wieder gehören dazu auch Ausdrücke aus dem Pidgin-Englisch, einer simplifizierten Form des Englischen, die als Slang in vielen Teilen Nigerias gesprochen wird.
„Wenn ich gut im Training bin, dann beherrsche ich rund 90 Prozent der Wörter“, sagt der Spieler, „aber man verliert sie auch schnell wieder aus dem Gedächtnis.“ Derzeit ist er nicht in Bestform. Die Planung seiner Akademie kostet viel Zeit, zudem kämpfte er auch für den Erhalt der staatlichen Scrabble-Förderung. Nigerias Wirtschaft schwächelt seit Jahren, die Regierung plant eine erhebliche Kürzung der Mittel. „Damit gefährden wir ein großes Stück unserer Kultur“, sagt Jighere.
Keine optimalen Vorbereitungsbedingungen also für die nächste Weltmeisterschaft, die Ende Oktober (23.-28.) in England stattfinden soll. Die Konkurrenz wird immer stärker, allen voran der Neuseeländer Nigel Richards. Der dreifache Weltmeister ist so etwas wie der Roger Federer des englischen Scrabbles – und gewann selbst im französischen Wettbewerb einige der wichtigsten Turniere. Ohne diese Sprache wirklich zu sprechen. Der Mann mit dem fotografischen Gedächtnis studierte vor seinen ersten großen Titeln neun Wochen lang ein französisches Wörterbuch. Jighere weiß, dass er nur dann den Ansatz einer Chance gegen den 51-Jährigen und andere Top-Spieler hat, wenn er sein Leben voll auf Scrabble ausrichtet.
Jetzt aber zählt nicht die Zukunft seines Sports, sondern nur der Augenblick, Buchstabe für Buchstabe. Ein ambitionierter Amateur bittet um eine Partie. Jighere stimmt mit seinem breiten Lächeln höflich zu und wirkt so konzentriert wie bei Weltmeisterschaften. Mühelos siegt er. Nigerianer sind für einen Spielstil kürzerer, maximal sieben Buchstaben langer Wörter mit hohen Punktwertungen bekannt. Damit versperren sie dem Gegner auf dem Spielbrett geschickt den Weg für längere Wörter.
Bezeichnenderweise entschied Jighere das Finale der WM gegen einen britischen Gegner am Ende mit dem nur aus fünf Buchstaben bestehenden Wort „felty“ (filzig). Doch seine Stärke ist, dass er seinen Stil jederzeit ändern kann, dann lange Fremdwörter einsetzt. Der Nigerianer gilt taktisch als herausragend, vielleicht auch, weil er ein glänzender Schachspieler ist. „Wellingtons größte Stärke ist seine außergewöhnliche Ruhe“, sagt Nsikan Iyanam, einer der besten Spieler in Lagos, „er ist undurchschaubar und tritt immer gleich auf – egal, ob er verliert oder gewinnt.“ Allein das verunsichere viele Gegner.
Entsprechend mühelos gewinnt Jighere gegen seinen heutigen Herausforderer. Wenn er neue Buchstaben aus dem Stoffsack zieht, dann hält er diesen hoch über den Kopf. Die Regeln besagen, die Steine müssten über Augenhöhe gezogen werden, damit nicht geschummelt werden kann. Egal ob bei Profiturnieren oder hier beim Freundschaftszocken – Jighere streckt die Arme weiter in die Höhe als jeder andere. Das sei eine Frage des Prinzips.