Das Geschäft mit dem Wundermittel
Seit Madagaskars Präsident die Pflanze Artemisia als Heilmittel gegen das Coronavirus preist, steigt die Nachfrage auch in zahlreichen anderen Ländern. In Südafrika verkaufen Kleinbauern das Kraut in Massen. Einige Wissenschaftler sehen durchaus Anlass, der Sache nachzugehen – warnen aber vor dramatischen Folgen des Hypes
John Abesalie verzieht das Gesicht, als er das vermeintliche Wundermittel trinkt. Bitter sei es, sagt er. Sehr bitter. Normalerweise müssen das seine Geschmacksnerven nur bei Fieber ertragen. Nun hat er aber im Radio gehört, dass die Artemisia-Pflanze womöglich bei der Vorbeugung einer Infektion mit dem Coronavirus helfe. Also bereitet der 54-Jährige das scheußliche Getränk jeden Tag zu.
Ein Farmer hat seiner Familie erlaubt, auf seinem Grundstück ein paar Blechhütten zu errichten. Die Medizin bereitet Abesalie mit Feuerholz zu, der Strom des baufälligen Generators reicht nur für die Lampen. Er benutzt Regenwasser, das er über die Dachrinnen aufgefangen hat. Abesalie kämpft tagtäglich ums Überleben. Vor dem Coronavirus aber fühlt er sich sicher. Denn hier, in der Nähe der südafrikanischen Küstenstadt Thornhill, wächst Artemisia, oder der Einjährige Beifuß, wie die derzeit wohl meistdiskutierte Pflanzengattung Afrikas in Deutschland genannt wird, so viel wie an wenigen anderen Orten der Welt.
Auf dem Kontinent ist das Kraut zum Politikum geworden, seit es von Madagaskars Präsident Andry Rajoelina im April als vermeintliche Lösung der Covid-19-Pandemie präsentiert wurde. Der ehemalige Marketingunternehmer nahm im Fernsehen einen Schluck der braunen Flüssigkeit, die er als „Covid-Organics“ (CVO) vorstellte. Das Getränk werde als Vorbeugung und Medizin gegen das Virus in die Geschichte eingehen, ja das Schicksal Afrikas verändern. Madagaskar habe wegen des Medikaments keinen Covid-19-Toten, behauptete der Politiker. Und es werde „auch keinen geben“.
Das madagassische „Institut für Angewandte Forschung“ habe das Mittel entwickelt, mit dem zahlreiche infizierte Inselbewohner geheilt worden seien, so der Präsident. Zum Einsatz kommen Kräuter von der Insel, darunter eine Pflanze aus der Gattung der Artemisia. Der daraus gewonnene Wirkstoff Artemisinin wird seit vielen Jahren vor allem in der Behandlung von Malaria erfolgreich eingesetzt – jährlich werden alleine in diesem Bereich weltweit 330 Millionen Artemisinin-Präparate verabreicht. Und Madagaskar gehört zu den größten Produzenten.
Ein Mittel gegen Covid-19-Pandemie aber verspricht neben weltweitem Prestige auch neue Geschäftsfelder. In den vergangenen Wochen verschickte Rajoelina das Mittel an einige Länder des Kontinents. Populisten wie Tansanias Präsident und Corona-Skeptiker John Magufuli reagierten ungeprüft mit dem Versprechen, das Mittel im großen Stil zu importieren – man werde bald ein Flugzeug schicken. Die Regierungen der Republik Kongo, dem Togo und Tschad schlossen sich umgehend an, nicht selten mit panafrikanischer Rhetorik. Guinea-Bissau habe sich sogar bereiterklärt, die Medizin in ganz Westafrika zu verteilen, teilte der ehemalige DJ Rajoelina stolz auf Twitter mit.
Andere Länder reagierten skeptischer. Zwar gibt es durchaus traditionelle Medizin aus Afrika, die Einzug in die Schulmedizin gefunden hat. Doch es passieren auch immer wieder tödliche Unfälle bei der Verabreichung von unzureichend erforschten Substanzen. Der Senegal kündigte eigene Tests an, Südafrika berief sich auf die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die mit deutlichen Worten darauf hinwies, dass es keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit gebe. Es wurden klinische Studien gefordert, sehr zum Verdruss von Rajoelina, der Rassismus witterte: „Gäbe es so viel Zweifel, wenn das Mittel in Europa gefunden wurde?“, fragte er im Interview mit „France24“ und gab die Antwort gleich selbst: „Ich glaube nicht.“ Die WHO glättete zuletzt die Wogen und versprach, das Land bei klinischen Tests zu unterstützen.
Denn Anlass für Untersuchungen gibt es durchaus. Es ist bekannt, dass Artemisinin antivirale Wirkung haben kann. Zuletzt hatten algerische Forscher aufhorchen lassen. Das Präparat sei wahrscheinlich zumindest effektiver im Kampf gegen Covid-19 als das von US-Präsident Donald Trump prophylaktisch eingenommene, höchst umstrittene Hydroxychloroquin.
Was an der Sache mit dem bitteren Kraut dran ist, wird derzeit auch in Deutschland untersucht. Das Max-Planck-Institut in Potsdam wird in den kommenden Wochen erste Ergebnisse vorstellen. Am Telefon gibt sich Studienleiter Peter Seeberger vorsichtig optimistisch: „Es sieht nicht so schlecht aus. Wir haben sehr interessante Resultate und bereiten derzeit sowohl Tierversuche als auch klinische Studien vor.“ Mehrere Gruppen von Medizinern seien seien interessiert.
Allerdings sei dem Institut der vermeintliche Wundertrank aus Madagaskar selbst nicht zur Verfügung gestellt worden, man konzentriere sich auf den Wirkstoff Artemisinin: „Madagaskar hat bislang keine ausreichenden Informationen zur Herstellung von Covid-Organics gegeben, weder zur Konzentration des Wirkstoffs, noch zur Technik der Extraktion“, sagt Seeberger, „ohne diese entscheidenden Informationen ist es völlig unmöglich, die Wirksamkeit dieses spezifischen Präparats einzuschätzen.“
Er bekommt derzeit Anfragen aus aller Welt zu der Studie, so habe auch die südafrikanische Regierung Kontakt zum Institut aufgenommen. Schließlich gibt es auch in Südafrika keinen Mangel an der Artemisia-Pflanze, zudem wurden dort mit 32.600 Fällen die meisten Infektionen aller afrikanischen Länder registriert – Tendenz zuletzt stark steigend. Es gab 683 Tote.
In der Ostkap-Provinz des Landes sieht man in diesen Tagen zahlreiche Straßenhändler, die das Kraut aus ihrem Kofferraum verkaufen. Vor einem Supermarkt in Port Elizabeth bietet Nomalizo Ndlazi den Strauß für umgerechnet einen Euro an. Am Vortag hätte sie rund 20 abgesetzt, heute hätte sie diese Zahl schon am Mittag erreicht, erzählt sie. Ob sie an die Wirkung gegen das Coronavirus glaube? „Dafür gibt es keinen Beweis, das muss erst untersucht werden“, sagt sie ohne Zögern, „es hilft gegen Fieber.“ Sie macht ihren Kunden keine falschen Versprechungen. Die kaufen das Zeugs trotzdem.
Auch der Kleinbauer Abesalie merkt die gestiegene Nachfrage, immer wieder wandert er zu Hügeln, auf denen die Pflanze wächst. Im vergangenen Jahr verlangte er für einen großen Sack 50 Rand (2,56 Euro), inzwischen sind es 80 Rand (4,10 Euro). Rund zehn verkauft er am Tag, wahrscheinlich wären es ohne die rigorose Ausgangssperre im Land noch mehr. Vor ein paar Tagen war ein Kunde da, ein Professor, sagt Abesalie, der habe gleich drei gekauft. Der Mann habe erzählt, er wolle womöglich bald im großen Stil mit dem Präparat in einer Fabrik produzieren.
Eine junge Frau kommt auf das Grundstück, sie ist über eine Stunde lang für das Kraut gelaufen, nachdem sie über eine Whatsapp-Sprachnachricht von dem angeblichen Wundermittel gehört hat. „Ich selbst habe keine Angst vor dem Virus, aber mein Vater ist 69 Jahre alt, meine Tochter ist fünf. Die Pflanzen sind für sie.“
Wissenschaftler Seeberger beobachtet mit Sorge, dass die Pflanze in vielen afrikanischen Ländern bereits voreilig verstärkt eingenommen wird, besonders in Gegenden mit hoher Malaria-Belastung. „Die WHO ist auch deshalb so zurückhaltend, weil sich Resistenzen gegen das Medikament entwickeln könnten, wenn Artemisinin massenhaft vorbeugend gegen Covid-19 eingenommen wird, ohne dass eine Wirksamkeit belegt ist“, sagt er. Das würde in einigen Ländern zahlreiche Malaria-Tote zur Folge haben.
Die Familie von Kleinbauer Abesalie ist jedenfalls fest davon überzeugt, dass die Pflanze auch gegen das Coronavirus hilft. Sie wirke bei vielen Krankheiten, aber man müsse seinen Glauben in die Wirksamkeit legen, sonst bringe die Einnahme nichts, sagt sein Bruder Peter. Schon seine Großmutter habe das Präparat genommen, und die sei über 90 Jahre alt geworden. „Die Leute hier wissen, wie sie überleben.“ Egal, was die Regierung sage.