In den Fängen des Imams
Über 1000 Koranschulen gibt es in Dakar, viele Imame beuten ihre Schüler aus und schicken sie zum Betteln auf die Straßen. Lange galten die „Marabouts“ in Senegal als unantastbar. Nun geht die Regierung gegen sie vor. Nicht wegen Verstößen gegen Kinderrechte. Sondern wegen der gestiegenen Terrorgefahr
Von Christian Putsch
Dakar – Das Trikot des FC Barcelona hängt in Lumpen an Moussa Diattas Oberkörper. Immer wieder fallen dem Neunjährigen die Augen zu, während er einen angespitzten Bambusstock in Tinte taucht und Koranverse auf seine Holztafel kritzelt. Um vier Uhr war er aufgestanden, ein paar Gebete, dann auf die Straßen von Senegals Hauptstadt Dakar. Betteln. Drei Stunden hat es gedauert, bis er sich zurück in die Koranschule traute. Bis er die 300 Franc hatte, eine Kinderhand voll Münzen in seiner Blechdose. Umgerechnet ein halber Euro.
Den täglichen Preis von Moussas Existenz hat der Imam Abdoulahi Diamanka festgelegt. Er geht durch die Reihen und leert die Dosen seiner 60 Koranschüler. Auf 30 Euro kommt er so täglich, das Zehnfache des landesweiten Durchschnittsverdienstes. Diamanka sagt, er kaufe davon Unterrichtsmaterialien, Essen und Medizin. Und er biete eine sichere Unterkunft, hier, in diesem verfallenen Haus direkt neben defekten Stromleitungen. Auf Strohdecken schlafen seine Schüler, die “Talibés”, dicht gedränt und teilen sich eine Toilette und einen Wasserhahn. „Seine Eltern haben Moussa vor vier Jahren bei mir abgegeben, seitdem habe ich nichts von ihnen gehört“, rechtfertigt sich der Imam, „mir wäre es auch lieber, ich würde von ihnen eine Gebühr bekommen. Oder von der Regierung. Dann müsste er auch nicht betteln.“
Die über 1000 Koranschulen in Dakar sind untrennbar mit den 30.000 Straßenkindern verbunden, die das Stadtbild so sehr prägen wie das kaum einer anderen afrikanischen Großstadt. Die weitgehend unreglementierten Religionsschulen existieren oft seit Jahrhunderten in überwiegend muslimischen Ländern wie dem Senegal, Burkina Faso, Guinea und Niger. Sie entstanden entlang der muslimischen Handelsrouten in Afrika und bildeten lange ein einflussreiches Gegengewicht zu den Strukturen der europäischen Kolonialisten. Selbst wer sich die Gebühren für die im Senegal streng säkularen Schulen leisten kann, schickt seine Kinder zumindest für ein oder zwei Jahre auf eine Koranschule.
Im derzeit neben Ghana stabilsten westafrikanischen Land wagte bis zuletzt kein Politiker, gegen die in Westafrika als „Marabouts“ bezeichneten Lehr-Imame vorzugehen. Die Verfassung verbietet es, Kinder zum Betteln zu schicken. Genau wie Schläge, die von den Imamen oft eingesetzt werden, wenn die Schüler nicht die tägliche Gebühr abliefern. Doch nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ gab es trotz offensichtlicher Verstoße bislang kaum Strafverfahren.
In diesem Jahr sind die Koranschulen jedoch verstärkt ins Visier der Behörden gerückt, und es geht um mehr als Bettelei und Kinderrechte. Im Februar wurde der Imam Alioune Badara Ndao verhaftet, der in der Stadt Kaolack eine Schule mit 300 Jungs betrieb. Er hatte sich mehrfach mit dem senegalesischen Dschihadisten Makthar Diokhane getroffen, der in mehreren westafrikanischen Ländern für die nigerianische Terrororganisation Boko Haram rekrutierte. Bei einer Hausdurchsuchung bei Ndao wurde neben umgerechnet 23.000 Euro Bargeld, das laut Staatsanwalt für die Finanzierung von Anschlägen vorgesehen war, auch ein Video gefunden. Es „verherrlicht“ nach Angaben der Polizei „Terrorismus “. Sein Anwalt erklärte den Fund beim derzeit laufenden Prozess dagegen mit „Studienzwecken“.
Bislang blieb der Senegal von islamistischem Terror weitgehend verschont. Doch schon im vergangenen Jahr forcierte Präsident Macky Sall ein Verbot der Burka, weil er fürchtet, dass unter ihr Sprengstoffgürtel versteckt werden könnten. Angesichts der Anschläge in Burkina Faso und Mali herrscht erhöhte Wachsamkeit. Seit Januar gab es über 500 Verhaftungen, die vage mit „dem Kampf gegen Extremismus“ erklärt wurden. Darunter waren neben Ndao auch drei weitere Imame. Die Regierung erkennt, dass angesichts der weit verbreiteten Armut ein ähnliches Potenzial wie im Norden Nigerias herrscht, wo die Koranschulen zu den wichtigsten Rekrutierungsorten für Boko Haram zählen.
Terror? Davon könne keine Rede sein, sagt Imam Diamanka, während seine Schüler Koranverse aus zerfledderten Schriften abschreiben. „Hier geht es um den Koran. Und ums Überleben, jeden Tag. Betteln ist die einzige Lösung.“ Sein Vater habe in Libyen studiert und die Schule vor 35 Jahren gegründet und sich bis zuletzt augeopfert. Vor ein paar Wochen sei er gestorben, Diabetes. Es liege nun an ihm, das Werk seines Vaters fortzuführen, sagt Diamanka. „Er hat so vielen Menschen geholfen.“
Etwas anderes als der Koran wird hier jedoch nicht gelehrt, die Absolventen haben keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Dieses Versäumnis haben einige Marabouts inzwischen eingesehen. In durchaus angesehenen franko-arabischen Koranschulen werden neben dem Koran und Arabisch auch Mathematik und Französisch gelehrt. Die Qualität der Ausbildung ist gut, doch viele Eltern können sich die Gebühren nicht leisten, ebenso wenig wie die fünf Euro jährliche Registrierungsgebühr sowie Unterrichtsmaterialien für die staatlichen Schulen.
So sind Tausende Kinder leichte Beute für Imame wie Diamanka – und womöglich auch Islamisten. Der Franzose Loic Treguy hat am Stadtrand von Dakar das Zentrum „Village Pilote“ aufgebaut. Hier werden jährlich 450 Kinder und Jugendliche aufgenommen, sie erlernen nach der schulischen Ausbildung handwerkliche Berufe. „Das Problem ist, die Kinder aus den Fängen korrupter Imame zu befreien“, sagt er, „das ist schon ein Krieg.“ Die Eltern würden den Geistlichen oft blind vertrauen und ihre Kinder umgehend zurückschicken, sobald sie aus den Koranschulen flüchten.
Dieses Schicksal ereilte auch Baye Modou Ndiaye. Der 17-Jährige wurde von seinem Imam geschlagen, weil er nicht genug Geld erbettelte. Eines Tages flüchtete er, die Rückkehr zu seinen Eltern kam jedoch nicht in Frage. Schließlich kannten sie seinen Imam gut. „Ich bin einfach verschwunden“, sagt er, „ich habe auf den Straßen geschlafen. Aber das war mir egal. Hauptsache, ich habe den Imam nicht wiedergesehen.“ Vor zwei Jahren hörte er vom Village Pilote-Programm. Seitdem wohnt er hier und macht eine Ausbildung zum Elektriker. „Ich wollte wieder leben“, sagt Ndiaye. Auch zu seinen Eltern hat er wieder Kontakt. Treguy legt großen Wert auf die spätere Reintegration in die Heimatgemeinde – und dort auf Aufklärung. Es geht darum, den Einfluss von ausbeutenden Imamen zu limitieren.
Geholfen wird ihm dabei von der Europäischen Union (EU), die das Projekt derzeit jährlich mit rund 140.000 Euro unterstützt. „Diese Aufgabe ist angesichts der vielen Straßenkinder sehr wichtig“, sagt der Chef der EU-Delegation im Senegal, Joaquin Gonzalez-Ducay, „es hilft den Kindern bei der Reintegration in ihre Gemeinden.“ Zudem schule es örtliche Gemeindearbeiter und Lehrkräfte zum Thema Kinderrechte.
Koranlehrer Diamanka kann das nicht beeindrucken. „Meine Schüler können sich frei bewegen“, sagt er, „natürlich können sie auch zu dem Village-Pilote-Projekt gehen.“ Doch da sie dort nichts über den Islam lernen, würden sich sich seine Schüler für ihn entscheiden. Die nicken nur. Diamanka hatte ihnen verboten, selbst auf Fragen zu antworten.